Auf der Flucht by Helmuth Karasek
Autor:Helmuth Karasek [Karasek, Helmuth]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-09-30T16:00:00+00:00
Meine fünfte Flucht 1952 war meine letzte. Sie vollzog sich mit bürokratischer Akkuratesse, ordnungsgemäß, nach deutschen Gesetzen. Unter dem Schutz und der Billigung der westlichen Alliierten. Zuerst, nachdem ich mich in West-Berlin mit zwei meiner Schulkameraden (»Hier sind wir. Wir kommen aus der DDR. Wir wollen in den Westen.«) bei der nächstbesten Polizei gemeldet hatte. Dann wurden wir den »Amerikanern« übergeben, von denen den »Franzosen«, die ein Durchgangslager in ihrem Sektor, in Frohnau, im Grünen, »Jotwede« wie der Berliner sagt, janz weit draußen, hatten.
An diese Zeit in einer Halle mit übereinander gestapelten Betten mit grauen Decken – so sehen alle Lager aus – erinnere ich mich aus zwei Gründen. Einmal, weil wir in den vier Wochen – der ersten Station des »Notaufnahmeverfahrens – von irgendwelchen amerikanischen Zivilbeamten stundenlang einzeln sehr freundlich und sehr intensiv verhört wurden, ohne dass ich mich darin erinnern könnte, dass das, was sie von mir hören wollten, irgendwelchen Sinn und Verstand – etwa im Sinne geheimdienstlicher Aufklärung – machte.
Der zweite Grund: Ich fing an, auch aus Langeweile, mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu flirten, das da mit seinen Eltern im Lager war, aus Ostpreußen stammte und ein wunderschönes breites, freundliches Gesicht, umrahmt von dicken weißblonden Zöpfen, hatte. Wir saßen am Nachmittag am Rande des Lagers auf einer Bank, hielten Händchen, rückten Wange an Wange dicht aneinander, küssten uns. Dabei hat mich wohl mein Klassenkamerad Karlheinz gesehen denn er sagte mir am Abend – es war gegen Ende unseres Aufenthaltes –, dass er mich mit dem Mädchen habe knutschend sitzen sehen. Und dann: Man nenne sie im Lager »Matratze«, weil sie mit jedem …
Ich habe ihm diese Bemerkung eigentlich nie vergeben. Unsere Freundschaft hatte von da an einen Riss. Ich denke, dass ich mir aus diesem Grund von ihr keine Adresse geben ließ oder ihr, falls sie keine hatte, nicht die meines Metzinger Onkels gab. Ich habe das lange bedauert, weil das eine unerfüllte Geschichte war und sie ein sehr zärtliches Mädchen.
In Hamburg fuhr unser Bus dann an den Grindel-Hochhäusern vorbei, die mir damals, 1952, ungeheuer imponierten. Heute ist dort mein Einwohnermeldeamt, das Standesamt, in dem ich 1982 heiratete, und, immer wieder, das Wahllokal.
Wir wurden in das Notaufnahmelager Fallingbostel gebracht, ich erinnere mich an die groben Ärzte, die uns Flüchtlinge untersuchten und fragten, ob wir »Käse an der Nille« hätten. Aber dies war sozusagen die gröbste, die einzige Entwürdigung. Und wahrscheinlich stanken wir wirklich.
Weil ich einen Brief von meinem Onkel Kurt vorweisen konnte, in dem der sich bereit erklärte, mich in Metzingen aufzunehmen, wurde ich mit dem Zug nach Balingen in Württemberg-Hohenzollern verfrachtet, das dritte Notaufnahmelager, das besonders trostlos, weil weitgehend leer war. Eine bräunliche Baracke, ziemlich heruntergekommen. Auch hier musste ich stumpfsinnig ein paar Wochen warten, und dann erreichte ich meinen offiziellen Flüchtlingsstatus, den Flüchtlingsausweis, der mir mein Leben als Bürger der Bundesrepublik garantierte. Ich bekam den »Ausweis A« (Heimatvertriebener). Als DDR-Flüchtling wegen »Gefahr für Leib und Leben« hätte ich nur den Ausweis »C« bekommen, während mir der Ausweis A (verlorenes »Hab und Gut« und Lastenausgleich) ein Stipendium und ein Studiendarlehen sichern sollte.
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